Kapitel 40 - Nur die halbe Wahrheit


 

Montag, 18. Mai 2015

 

 

 

Während Joel mit dem Auto auf dem Weg zum Tempel war, bahnte sich Kuro unterdessen den matschigen Trampelpfad nach oben. Natürlich nutzte er dazu seine Elementarfähigkeiten, um schneller voranzukommen. Hin und wieder kam es vor, dass seine Füße im Schlamm den Halt verloren und er wegzurutschen drohte. Damit dies nicht passierte, manipulierte er die Erde so, dass sie ihn stattdessen stützte und er somit schnellen Schrittes vorankam. Eigentlich hätte man ja meinen können, dass die ganzen Bäume, welche diesen Wald formten ein wenig das Unwetter abhalten würden. Allerdings war genau das Gegenteil der Fall. Immer wieder prasselten dicke Wassertropfen auf den Suzuki-Erben hinab, welche sich zuvor in den Baumkronen gesammelt hatten. Auch der Wind pfiff ziemlich kalt für einen Mai. Aber das lag wohl auch daran, dass Kuro mittlerweile schon komplett durchnässt war.

 

„Blödes Mistwetter“, fluchte der junge Mann zwischenzeitlich und zog seine Kapuze fester.

 

Innerlich fragte er sich jedoch was er hier überhaupt tat. Klar, Momiji hatte ihn gebeten nach Rin zu sehen, aber im Grunde war er doch eigentlich gar nicht verantwortlich. Oder? Das hätte auch jeder andere übernehmen können.

 

In erster Linie war es ihm nur wichtig sie wegen der liegengebliebenen Arbeit zu finden. Andererseits hatte er sich auch schon ausgemalt wie er sie beschimpfen würde, wegen ihrer miserablen Prüfungsergebnisse und dass sie nicht mal zum Unterricht, geschweige denn zur Arbeit erschienen war. Aber nachdem die Erstklässlerin ihre Sorge verkündet hatte, wurde in ihm dieses Gefühl ebenfalls immer stärker.

 

Nach wenigen Minuten griff der Schwarzhaarige schließlich nach seinem Smartphone, um die Taschenlampe zu aktivieren. Der Weg war nämlich nicht beleuchtet und es wurde zunehmend dunkler, woran das Unwetter auch nicht ganz unschuldig war.

 

Suchend schaute sich Kuro mit ernster Miene um, konnte das Mädchen aber bis jetzt noch nirgends entdecken. Am zuletzt georteten Signal war er auch bereits vorbeigekommen. Leider aktualisierte sich der Standort nicht mehr und er wusste nicht, wo die Jüngere wirklich war. Möglicherweise hatte er sie aber auch übersehen und sie hatte sich in letzter Zeit gar nicht mehr bewegt. Das klang für ihn jedoch unrealistisch. Warum sollte sie auf halber Strecke verweilen. Und das in diesem Regen? Hatte sie nicht Angst vor Wassermengen? Was wenn sie überhaupt nicht mehr hier war und stattdessen nach Hause gegangen war?

 

Plötzlich wurde der Wald für eine Sekunde in grelles Licht gehüllt. Schlagartig zuckte der Schwarzhaarige daraufhin zusammen, da er dies nicht hatte kommen sehen und kaum einen Wimpernschlag später folgte ein sehr lautes Donnern.

 

Scharf zog er den Atem nach innen und erstarrte kurzzeitig. Generell hatte er nichts gegen Gewitter, aber für den Moment hatte er sich definitiv den ungeeignetsten Ort dafür ausgesucht.

 

Viel Zeit darüber nachzudenken blieb ihm allerdings nicht, denn kaum verstummte das Grollen wieder, drang ein grelles Schreien durch den plätschernden Regen. Es war ungewiss wann es begann, denn es zog sich ziemlich in die Länge. Fakt war nur, dass sich in der Nähe jemand befand.

 

„Das muss sie sein!“, schaute sich der Suzuki-Erbe hektisch in alle Richtungen um. Der Schrei war wieder verstummt und Kuro wusste nicht wo er hergekommen war.

 

„Verdammt!“, fluchte er laut. Was nun?! Die Stimme konnte nur von Rin kommen. Kein normaler Mensch würde sich bei so einem Wetter hier im Wald aufhalten.

 

„Hallo?!“, schrie er schließlich durch die Bäume in der Hoffnung eine Antwort zu bekommen, „Wo bist du?! Antworte!“

 

Keine Reaktion. Ob ihr etwas passiert und sie nicht mehr bei Bewusstsein war?

 

Hunderte von Szenarien schossen plötzlich durch den Kopf des jungen Mannes und panisch schrie er immer wieder: „Rin! Riiiinnn!!! Wo bist du?! Antworte doch!“

 

Gefühlte Ewigkeiten stieß er ihren Namen immer und immer wieder aus. Er wusste nicht, ob der Schrei wirklich von ihr kam, geschweige denn, ob sie überhaupt noch hier auf dem Weg war.

 

Plötzlich ging erneut ein Blitz nieder, welcher zeitgleich mit einem lauten Donner einige der Bäume in Kuros unmittelbarer Nähe traf und diese spaltete. Mit einem lauten Knall fielen die Stämme um und landeten auf dem schlammigen Boden. Obwohl noch einige Meter zwischen der Einschlagstelle und dem Schwarzhaarigen waren, schlug sein Herz schneller als je zuvor. Wäre er näher dran gewesen, wäre er nun sicherlich nicht mehr am Leben. Er hatte Glück, dass ihn weder der Blitz noch einer der Bäume getroffen hatte. Ein Feuer blieb glücklicherweise auch aus, da alles so durchnässt war, dass es gar keine Chance dazu gab.

 

Erst jetzt vernahm er wieder das laute Schreien, welches schon eine Weile anhielt und es riss ihn schlagartig aus seiner Starre. Schnell! Er musste es orten! Hektisch fuhr er wieder herum und stolperte schließlich tiefer in den Wald, fernab des Weges an der Einschlagstelle vorbei. Zwischenzeitlich verstummte die Stimme wieder, aber dieses Mal war er sich sicher von wo er sie gehört hatte. Hektisch, fast schon panisch bahnte er sich seinen Weg durch den Matsch, während er einige Male den Halt verlor und zu Boden ging. Immer und immer wieder stand er auf als wäre nichts gewesen und rannte schwermütig weiter. Erneut rief er lautstark nach Rin, in der Hoffnung nun endlich eine Antwort zu erhalten. Möglicherweise hatte sie ihn zuvor einfach nicht gehört durch den lauten Regen, welcher auf die Bäume niederprasselte.

 

So sehr er es sich aber erhoffte, die Rückantwort blieb aus. Außer Atem wurde sein Schritt immer langsamer und er konnte kaum noch die Füße heben, welche durch den angesammelten Schlamm immer schwerer wurden.

 

„Wo ist diese Idiotin bloß?!“, fluchte er lauthals vor sich hin, als sein Fuß sich in einer Wurzel verfing und er der Länge nach in den Dreck fiel. Erneutes Fluchen ging von ihm aus, welches aber recht schnell wieder verstummte, als er ein Wimmern vernahm. Mit suchendem Blick stand er langsam wieder auf und fragte mit normaler Zimmerlautstärke: „Rin?“

 

Der Suzuki-Erbe vernahm daraufhin, wie jemand erschrocken die Luft nach innen zog. Dann verstummten die Laute wieder und nur noch das Rauschen des Regens drang an sein Ohr.

 

Hektisch fuhr der Ältere wieder herum und versuchte mit seiner Taschenlampe das Mädchen zu finden. Sie musste ziemlich nah sein, sonst hätte er sie nicht gehört.

 

„Rin. Ich weiß, dass du hier bist“, meinte Kuro mit ruhiger Stimme, „Komm endlich raus, damit wir beide aus diesem Unwetter rauskommen.“

 

Erneut blieb die Reaktion aus.

 

„Du hast doch Angst vor dem Regen, oder?“, versuchte er sie behutsam hervorzulocken.

 

Am liebsten wäre er ihr gerne an die Gurgel gesprungen für dieses dämliche Versteckspiel. Warum bloß zeigte sie sich nicht? Aber sie nun anzumeckern brachte in dieser Situation auch nichts.

 

Weiter leuchtete der Schwarzhaarige die unmittelbare Umgebung ab, um einen Hinweis auf ihren Verbleib zu finden. Tatsächlich blieb sein Blick an einer Stelle hängen, an welcher der Regen einen Meter vor dem Erdboden mitten in der Luft abprallte, als wäre dort eine unsichtbare große Blase. Dort musste sie sein! Kuros Gesicht erhellte sich ein wenig und man konnte ihm die Erleichterung ansehen. Gleichzeitig kroch in ihm aber auch der Ärger auf, welchem er am liebsten sofort Luft machen wollte.

 

Vorsichtig schritt er zu dem Ort hinüber an welchem er Rin vermutete und konnte einfach nicht mehr innehalten: „Bist du eigentlich komplett bescheuert?! Du hättest sterben können! Idiotin!“ „Du bist doch selbst ein Idiot! Warum bist du hier?!“, fauchte eine aggressive weibliche Stimme zurück.

 

Ja, es war definitiv die gesuchte Oberschülerin, welche an diesem wasserabweisenden Fleckchen verweilte. Kaum hatte sie ein Wort gesprochen, wurde sie wieder sichtbar. Rin hatte sich ihre Fähigkeit der Unsichtbarkeit zu Nutze gemacht, um unentdeckt zu bleiben. Allerdings verstand der Schwarzhaarige nicht so ganz, warum sie trotz ihres Wasserschildes komplett durchnässt war.

 

Besagtes Schild brach jedoch wieder ein, als sich das Mädchen versuchte aufzurappeln und mit verschränkten Armen vor dem Älteren aufbäumte. Ein wütendes Augenpaar starrte Kuro an und dieser wurde dadurch ebenso sauer.

 

Statt Worten folgten jedoch Taten und ohne groß drüber nachzudenken holte der Suzuki-Erbe aus und verpasste dem Mädchen eine heftige Backpfeife. Während diese noch vollkommen perplex war, griff der junge Mann nach ihrem Handgelenk und zerrte an ihr: „Jetzt komm endlich und lass uns aus diesem Wald verschwinden!“

 

Völlig von der Rolle stolperte die Blauhaarige ohne Gegenwehr hinter ihm her. Es sah fast schon ein wenig so aus, als sei es ihr egal was soeben vor sich ging. Ihre geröteten Augen wirkten ziemlich müde und trotz des starken Regens konnte man klar erkenne wie unaufhörlich Tränen herauskullerten.

 

Als die beiden Oberschüler endlich wieder auf dem eigentlichen Weg angekommen waren, musste der junge Mann kurz verschnaufen und blieb stehen. Das Tempo, welches er an den Tag legte verausgabte ihn ungemein. Rin hingegen nahm das kaum mit und sie stand nur geistesabwesend neben ihm.

 

Plötzlich wurde der Wald wieder in gleißendes Licht gehüllt und Sekunden später folgte ein lauter Donner. Das Gewitter zog allen Anschein nach allmählich weiter.

 

Trotz allem schrie das Mädchen erneut auf, ging in die Hocke und legte ihre Hände schützend über ihren Kopf. Kuro hatte sich so langsam wieder gefangen und sah nur kritisch zu ihr herunter. Sie zitterte am ganzen Körper und kauerte dort unten auf dem Boden wie ein kleines Kind, das eben den Schock seines Lebens hatte.

 

„Hast du Angst vor dem Gewitter?“, schnaubte der Schwarzhaarige genervt, „Du bist doch selbst dran schuld, wenn du bei dem Wetter hier draußen im Wald rumlungerst.“

 

Mit rollenden Augen zerrte er die Schweigsame schließlich wieder hoch und dann erneut hinter sich her. Er wollte endlich aus diesem Unwetter raus, bevor wirklich noch etwas passierte. Und da sie recht nah am Tempel waren, bestieg er mit ihr den Berg, um möglichst schnell zu Joel ins warme Auto zu gelangen.

 

 

 

Im Suzuki-Anwesen angekommen, wurden die beiden Durchnässten erst einmal von den Dienstmädchen ins Badezimmer geschoben. Natürlich getrennt voneinander. Rins Kleidung wurde direkt gewaschen und Shizuka legte ihr etwas zum Wechseln parat. Es war ein Kleid in blau und schwarz, mit welchem das Mädchen schlussendlich wieder trocken herauskam und direkt ins Wohnzimmer geschickt wurde.

 

Ihr Gemütszustand war dabei schwer zu definieren. Man vernahm eine Art Widerwille und genervtes Schnauben, aber auch einen großen Hauch von Gleichgültigkeit. Eigentlich nicht verwunderlich, wenn man bedachte, dass sogleich eine Standpauke folgen würde. Dass sie durch die Prüfung gefallen war, war immerhin auch für den Schwarzhaarigen ein Problem.

 

Im Raum angekommen, sah sie den jungen Mann bereits auf dem Sofa sitzen und an einer Tasse Tee nippen. Auch für sie stand bereits eine Tasse bei gegenüberstehendem Sessel parat.

 

„Da bist du ja endlich. Setz dich hin“, befahl Kuro erstaunlich ruhig.

 

Wortlos tat sie dies und blickte zögerlich zu ihrem Gesprächspartner herüber. Dieser schnaubte schwer, stellte sein Getränk auf dem kleinen Tisch ab und stützte sich mit den Unterarmen auf seinen Beinen ab: „Was sollte das?“

 

Wartend auf eine sinnvolle Erklärung, starrte er die Blauhaarige beinahe nieder. Trotz allem blieb er ruhig, was das eigentlich Gruselige an der Situation war.

 

Sofort wich sie seinen gelb-braunen Augen aus und betrachtete den dampfenden Tee in ihren Händen. Warum rastete er nicht einfach aus wie immer? Dann könnte sie ihm wenigstens die Stirn bieten. So brachte sie kein Wort heraus.

 

„Warum warst du bei diesem Unwetter im Wald?“, bohrte der Ältere recht behutsam weiter, „Ich dachte du hast Angst vor großen Wassermengen.“

 

Kaum hatte er seine Aussage getätigt, legte sich wieder Stille über den Raum. Angesprochene regte sich nicht und starrte weiter mit betrübter Miene in ihre Tasse.

 

Genervt stieß der Suzuki-Erbe die Luft nach außen: „Findest du dann vielleicht ein paar Worte zu deiner Prüfung?“

 

Erschrocken zuckte das Mädchen zusammen, und starrte Kuro für einige lange Sekunden an, ehe sie ihr Getränk ebenfalls auf dem Tisch abstellte und sich erhob. Mit einer tiefen Verbeugung fand sie endlich ihre Sprache wieder: „Es tut mir leid. Ich werde sofort meine Sachen packen und verschwinden.“

 

Schneller als alles andere, befand sie sich schließlich wieder in der Senkrechten und schritt eilig auf die Tür zu. Sofort sprang auch der Schwarzhaarige auf und ergriff ihr Handgelenk, bevor sie den Ausgang erreichte.

 

„Warte“, stoppte er sie somit.

 

Mit Tränen in den Augen fuhr sie herum und blickte ihm verzweifelt in die Augen. Dieses Mal erschrak der Ältere und ehe er bemerkte was soeben los war, hatte er das Mädchen zu sich gezogen und an sich gedrückt. Erst nachdem es bereits passiert war, realisierte er was er soeben getan hatte. Nur verstand er nicht warum er es getan hatte.

 

„L-lass mich bitte los“, leistete die Blauhaarige Widerstand und wollte sich von ihm wegzudrücken. Ihre Versuche waren jedoch kaum der Rede wert. Abgesehen davon wollte der junge Mann sie auch nicht wieder freigeben. Grund dafür war, dass er ihr sein mittlerweile stark gerötetes Gesicht unter keinen Umständen zeigen wollte. Er konnte sich zwar selbst nicht sehen, war sich aber sicher, da er nahezu glühte und sein Herz genauso schnell raste wie das ihre.

 

„Ich lass dich nicht los“, drückte Kuro noch ein wenig fester, „Du machst ein fürchterliches Gesicht. Das kann man doch keinem zumuten.“

 

Da war sie wieder: Die Vorlage für eine Kabbelei, welche die Jüngere natürlich nutzte: „Das ist Freiheitsberaubung! Ich zeige mein Gesicht wem ich will!“

 

Durch ihr Gezappel wurde der Griff des Suzuki-Erben lockerer und sie schaffte es fast diesem zu entrinnen. „Na gut“, meinte er und zog sie wieder enger an sich, „Es gibt eine Bedingung.“ „Welche?“, murmelte sie mit leicht geröteten Wangen.

 

Rin war neugierig und wollte wissen was es sein könnte. Ob sie es jedoch auch tat stand auf einem anderen Blatt.

 

Vorsichtig kam er ihr daraufhin mit dem Kopf näher und flüsterte in ihr Ohr: „Komm ab morgen wieder in die Schule.“

 

Mit knallrotem Gesicht stieß die Blauhaarige ihn schließlich von sich und ergriff die Flucht aus dem Wohnzimmer ohne ihn noch mal angesehen zu haben.

 

„Was sollte das denn?“, nuschelte sie peinlich berührt in ihren Bart, bevor sie im Gästezimmer verschwand.

 

Nicht nur, dass die Geste an sich vollkommen unerwartet kam, nein, die Aussage verwirrte das Mädchen genauso. Hatte sie ihr Stipendium etwa nicht verloren? Aber sie war definitiv durchgefallen, oder?

 

Wäre sie doch bloß noch etwas länger bei ihm geblieben, um das in Erfahrung zu bringen.

 

Aber sie konnte nicht. Dieser Typ war diesmal so dermaßen aufdringlich, dass sie nur davonlaufen konnte.

 

 

 

 

 

Dienstag, 19.05.2015

 

 

 

Als Rin am nächsten Morgen zum Frühstück erschien, hatte sie tiefe Augenringe. Sie hatte kein Auge zugemacht, weil sie einfach nicht verstand was genau los war.

 

Dass Kuro sie am Abend zuvor umarmte, irritierte sie zwar ungemein, aber dennoch kreisten ihre Gedanken viel mehr um die Schule. Da der junge Mann sie aufforderte heute dort wieder zu erscheinen, suchte sie eine sinnvolle Erklärung dafür. Sie war eindeutig durchgefallen und somit automatisch von der Schule geflogen. Selbst die Schnepfen aus der Parallelklasse hatten sich deshalb über sie lustig gemacht.

 

Übermüdet nahm das Mädchen an der große Tafel Platz. Dort stand nur ihr Essen bereit und sonst nichts.

 

„Wo ist denn Kuro?“, hatte sie erwartet ihn hier anzutreffen. Eines der Dienstmädchen, welches soeben den Raum verlassen wollte, gab ihr eine Antwort: „Ich glaube der junge Herr ist schon zur Akademie aufgebrochen.“ „Esse ich allein? Was ist mit euch? Und wie sieht es mit Skye aus?“, erkundigte sich die Blauhaarige. „Wir Bedienstete frühstücken immer etwas früher. Die Spätschicht isst meist erst, wenn der junge Herr schon aus dem Haus ist“, erklärte die Angestellte, „Skye-kun habe ich heute noch nicht gesehen. Ich glaube er ist gar nicht hier gewesen.“

 

Verstehend nickte Rin und bedankte sich für die Auskunft. Anschließend verließ die junge Frau den Raum und die Oberschülerin blieb allein zurück. Was nun? Sie wollte liebend gern an der Suzuki Akademie bleiben und ihren geliebten Sport ausüben, aber sie traute sich nicht mehr auch nur einen Fuß hineinzusetzen. Die Mädchen mobbten sie, die Jungs ignorierten sie und sie besaß aktuell nicht das Selbstbewusstsein dies zu überstehen. Ruri war auch nicht da und sie hatte niemanden, bei dem sie sich willkommen oder gar sicher fühlen konnte. Sie mochte zwar die Gesellschaft von Momiji sehr gerne, doch diese wollte die Verbindung nicht öffentlich zur Schau stellen. Somit blieb abgesehen vom heiligen Suzuki-Prinz keiner mehr, bei dem sie zumindest nicht völlig unwillkommen war. Aber mit diesem wollte sie nicht in Verbindung gebracht werden. Genau dieses Bündnis brachte ihr sowieso schon den meisten Ärger ein.

 

Entmutigt schnaubte das Mädchen, als sie soeben mit Frühstücken fertig war und ging zurück ins Gästezimmer. Dort schlüpfte sie missmutig in ihre frisch gewaschene Uniform und blickte prüfend in den Spiegel. Ihr Gesamtbild war wieder annehmbar, auch wenn sie sich nicht fühlte, als würde sie in die Uniform gehören. Allerdings fehlte nun ihre blaue Schleife, welche Rin dem 2. Jahrgang zuordnete. Die Blauhaarige hatte schon oft mitbekommen, dass Lehrer die Schüler ausschimpften, welche die Schleife oder die Krawatte nicht trugen und sie wollte eigentlich nicht riskieren auch noch von den Lehrkräften gerügt zu werden.

 

„Ich frag mal bei den Dienstmädchen nach. Vielleicht kann mir eine von ihnen eine Schleife borgen“, überlegte die Oberschülerin.

 

Abwegig war die Idee nicht. Immerhin versorgten sie sie auch anderweitig mit Kleidung in der Vergangenheit. Schnurstracks verließ sie daraufhin das Zimmer und suchte besagte Frauen, welche allerdings unauffindbar waren.

 

„Vielleicht im Büro?“, öffnete Rin dieses und schloss sofort wieder die Tür, als sie nur Chaos, aber keine Person erblicken konnte. „Möglicherweise richten sie ja gerade Kuros Schlafzimmer wieder her?“, stieg sie wieder die Treppe hinauf.

 

Kurz klopfte sie, bekam jedoch keine Antwort und trat daraufhin vorsichtig in den Raum. Er war leer und wirkte noch immer genauso kahl wie beim letzten Mal als sie darin war. Das Bett war noch nicht gemacht und das Sofa war übersät mit Kleidung, welche wahllos draufgeschmissen wurde. Selbst auf dem Boden daneben lagen Kleidungsstücke, welche scheinbar in die Wäsche gehörten.

 

„Warum schmeißt er seinen ganzen Kram aufs Sofa, wenn er doch einen riesigen begehbaren Kleiderschrank hat?“, musterte die Blauhaarige das Chaos, welches wirklich merkwürdig aussah.

 

Zum einen lagen dort Hemden, feine Hosen und dergleichen, aber auch eine Jogginghose, sowie Shirts und Pullover. Auch Teile der Schuluniform, welche er gerade nicht trug, waren dort draufgeschmissen. Unter anderem fiel Rin in dem Haufen auch die blaue Krawatte auf, welche der junge Mann meist sowieso nie anhatte, da er immer ein Shirt unter der Uniform trug.

 

Plötzlich zog die Oberschülerin die Luft scharf nach innen, als sie die Lösung für ihr Problem realisierte.

 

Sekunden später schlich sie unbemerkt mit der Krawatte zurück ins Gästezimmer. Sie war sich zwar darüber bewusst, dass für die Mädchen die Schleife vorgesehen war, aber sie hatte schon einige Mitschülerinnen gesehen, die sich auch dagegen entschieden hatten. Obwohl das wahrscheinlich eher daran lag, dass sie diese von Schulabgängern oder ihrem festen Freund bekommen hatten. Das war Rin allerdings egal. Sie mochte die weibliche Schleife sowieso nie. Das passte einfach nicht zu ihr. Sie war niemals so niedlich und mädchenhaft wie die anderen.

 

Krampfhaft versuchte die Oberschülerin nun das lange Stück Stoff so zu binden, dass es zu dem wurde was es sein sollte. Allerdings sah es nach jedem Versuch anders aus, aber nie wie es sollte. Bislang hatte Saito ihr immer die Krawatten gebunden, deswegen hatte Rin kaum Erfahrung darin.

 

Schlussendlich beließ sie es nach dem siebten Versuch dabei. Dann war sie eben ein bisschen schief und krumm. Besser als gar keine zu haben.

 

Eilig rannte sie schließlich die Treppe hinunter ins Erdgeschoss: „Oh Gott ich komme zu spät!“

 

Ein Blick auf die Uhr nahm ihr die innere Ruhe völlig. Zwar bot Joel an die Oberschülerin zu fahren, doch damit fühlte sie sich mehr als unwohl und sie rannte lieber zur Bahnstation.

 

 

 

Vollkommen außer Atem, wechselte Rin soeben ihre Schuhe am Schuleingang, als die Klingel ertönte. Der Unterricht hatte soeben begonnen. „Mist!“, fluchte sie, schmiss ihre Straßenschuhe ins Fach und rannte den Flur entlang und die Treppe nach oben.

 

Eigentlich wollte sie gerade heute nicht zu spät kommen. Das bedeutete nur, dass sie die ungeteilte Aufmerksamkeit der ganzen Klasse hatte und jeder sie anstarrte. Sie, die eigentlich nicht mehr an dieser Schule sein dürfte. Peinlicher ging es wohl kaum.

 

Leicht schnaubend stoppte sie schließlich vor der Klassenzimmertür und atmete noch einmal tief durch, ehe sie mutig in den Raum trat.

 

„Ich glaub‘s ja nicht! Aikawa-chan, zuerst fällst du durch die Prüfung, erscheinst unentschuldigt nicht und nun kommst du auch noch zu spät?!“, schimpfte Nishima-sensei, als er das Mädchen bemerkte. „G-Gomen“, stotterte sie nur und verbeugte sich.

 

Zu allem Überfluss hatte sie nun nicht nur die ungeteilte Aufmerksamkeit aller, sondern auch noch eine Standpauke geerntet.

 

„Zur Strafe gehst du jetzt erst mal vor die Tür!“, zeigte ihr Klassenlehrer auf diese, „Und später kommst du zu mir ins Lehrerzimmer und holst dir deine miserablen Ergebnisse und nachsitzen für die ganze Woche ab!“

 

„Aber das ist unfair“, stammelte die Blauhaarige, „Ich hab doch Lacrosse-Training!“ „Jetzt nicht mehr! Ab vor die Tür!“, entgegnete der junge Lehrer streng.

 

Kaum trat die Schülerin wie geheißen wortlos vor die Tür, da konnte sie auch schon die gedämpfte Stimme einer Mitschülerin hören. Es war eine von denen, die sie aktiv mobbte: „Herr Lehrer. Müsste Aikawa nicht von der Schule geflogen sein? Sie hat doch als Stipendiatin die Prüfung nicht bestanden.“ „Es gibt zwei Wege, die an die Suzuki Akademie führen. Entweder ein Stipendium, oder man zahlt die Schulgebühren. Mehr steht mir nicht zu dazu zu sagen“, merkte man an seiner Stimme, dass er recht genervt war.

 

Damit beendete er das Gespräch und machte weiter wo er zuvor aufgehört hatte.

 

Eine gefühlte Ewigkeit stand sich Rin die Beine in den Bauch, bis die Stunde endlich vorbei war und sie wieder reindurfte. Kaum war sie an ihren Platz herangetreten, konnte auch Kuro seine scharfe Zunge nicht in Zaum halten: „Ist dir das nicht peinlich? Und wie läufst du eigentlich rum?“

 

Auf die schiefe Krawatte deutend stütze er seinen Kopf genervt mit dem Arm auf dem Tisch ab. Das Mädchen hingegen stellte völlig auf Durchzug, packte ihre Schulsachen für die nächste Stunde aus und setzte sich auf ihren Platz.

 

Erst als der Schwarzhaarige plötzlich das eigentlich relevante bemerkte: „Warum hast die überhaupt an? Wo ist deine Schleife?“ „Im Müll“, schlug sie gleichgültig ihr Heft auf. „Wieso das denn? Wer schmeißt freiwillig einfach einen Teil seiner Uniform weg?“, meckerte er mit vollkommenem Unverständnis. Nun wanderte ihr Blick zu ihm hinüber: „Wer sagt, dass es freiwillig war?“ „Und wo hast du dann bitte den Ersatz her? Ist das etwa meine?“, entgegnete der Suzuki-Erbe empört. „Und wenn es so wäre?“, blickte sie ihn entnervt an. Daraufhin streckte er seine Hand zu ihr: „Gib sie mir.“

 

Fordernd wartete er. Auch einige Blicke lagen mittlerweile auf den beiden. Normalerweise war der junge Mann in jeder freien Minute belagert. Aber da er ein Gespräch mit seiner Sitznachbarin anfing, wurde er nur neugierig beobachtet. Und man sah vor allem den Mitschülerinnen an, dass sie noch um einiges empörter waren, als es der Suzuki-Prinz war.

 

Da Rin keinen Streit vor allen anderen lostreten wollte, gab sie ihm widerwillig das Kleidungsstück. Hier würde nicht nur Kuro mit ihr diskutieren, sondern auch noch einige andere und das war das Letzte was sie aktuell wollte. Schon wieder in der Schussbahn zu stehen, würde sie auf Dauer nicht ertragen. Da nun sowieso alle wussten, dass die Krawatte nicht ihr gehörte, konnte sie sie sowieso nicht mehr tragen. Täte sie dies, wäre das wieder ein Streitpunkt. Also sah sie ein, dass Aufgeben hier der einzig richtige Weg war. Sie musste sich einfach schnell eine eigene zulegen. Vielleicht hatte ihr Bruder ja noch eine in Blau.

 

Ein Klingeln ertönte und die nächste Stunde begann. Der Lehrer war bereits im Raum und begann pünktlich mit dem Unterrichtsstoff. Die Blauhaarige jedoch stand mal wieder vollkommen auf dem Schlauch und versuchte wirklich krampfhaft zu verstehen was Sache war. Plötzlich landete ein Flugobjekt mitten auf ihrem Tisch und sie zuckte heftig zusammen. So heftig, dass sie versehentlich ihre Federmappe herunterschmiss und alles auf dem Boden verteilt war. Durch den lauten Aufprall waren schon wieder alle Blicke auf sie gerichtet und am liebsten wäre sie vor Scham gestorben. Schon wieder stand sie im Mittelpunkt. Dort, wo sie am wenigsten sein wollte.

 

Kuro griff sich nur schnaubend an die Stirn und starrte in sein Buch. Man konnte seine Gedanken förmlich lesen. Sie schrien, warum die Oberschülerin bloß so dämlich war.

 

Eilig sammelte sie ihre Schreibutensilien wieder ein und entschuldigte sich, womit die Aufmerksamkeit wieder dem Unterricht galt.

 

Nun begutachtete sie das Objekt, welches für all das verantwortlich war. Es war die blaue Krawatte, welche sie kurz zuvor ihrem Sitznachbarn zurückgab. Dieser hatte sie ihr auf den Tisch geworfen.

 

Kritisch sah Rin ihn fragend an. Ihre Blicke trafen sich und der Schwarzhaarige machte eine kurze Bewegung, um zu verstehen zu geben, dass sie sie anziehen sollte. Zögernd nahm sie das sauber gebundene Stück Stoff auf und wusste nicht recht was sie nun tun sollte. Eigentlich wollte das Mädchen sie nicht mehr haben, aber da sie gerade keine Lust auf Diskussionen hatte, würde sie ihm die Krawatte einfach später wiedergeben. Dann könnte sie ihn auch endlich fragen warum sie nicht von der Schule geflogen war.

 

 

 


Kommentare: 0