Samstag, 09. Mai 2015
Da Rin an diesem Tag Großes vorhatte, war sie schon am Morgen aufgestanden und hatte sich an der Rezeption die Schlüsselkarte für Ruris Zimmer erhaschen können. Unter dem Vorwand etwas Wichtiges für die Schule dort liegengelassen zu haben, hatte das Mädchen Erfolg gehabt. Zuerst wollte die ältere Dame sie begleiten, konnte aber schlussendlich nicht, da noch andere Schüler ihre Dienste beanspruchten. Trotz allem blieb der Stipendiatin nicht viel Zeit, um in den Sachen ihrer Klassenkameradin zu wühlen. Sie hoffte den Schlüssel so schnell es ging ausfindig machen zu können.
Auch ihre beste Freundin und Akira hatte sie schon kontaktiert und um Hilfe gebeten, damit sie noch heute mit der Rettungsaktion starten konnten. Einzig Kuro ignorierte sie. Von ihm erwartete sie sowieso keine Hilfe nach seinem Ausraster. Zuvor musste man ihn ja auch zwingen, als es noch um Amikas Rettung ging.
„Verdammt“, schlug die Oberschülerin die letzte Schranktür zu. Nun hatte sie schon das ganze Zimmer auf den Kopf gestellt und noch immer nichts ausfindig machen können. Zur Sicherheit klapperte sie einige Ecken nochmal ab, aber das Resultat blieb dasselbe.
Entmutigt ließ die Blauhaarige schließlich von ihrer Suche in diesem Raum ab, brachte die Schlüsselkarte zurück und erklärte ihren beiden Freunden was Sache war. Nach einer kurzen Telefonkonferenz kam die Idee auf in der Schule nachzusehen. Eventuell hatten sie dort mehr Erfolg. Da Akira noch arbeiten musste und ihre beste Freundin ebenfalls zu tun hatte, setzte die Stipendiatin ihre Suche alleine fort. Eigentlich dachte sie, dass es einfacher und schneller gehen würde. Immerhin hatte sie damals den Schlüssel für Amikas Dungeon auch sofort in den Händen.
Bis zum Vormittag brachte Rin damit zu Orte in der Schule abzusuchen an denen die Schülersprecherin sich oft aufhielt. Aber auch dort konnte sie nichts ausfindig machen. Langsam aber sicher gingen ihr die Ideen aus wo sie noch schauen könnte und sie schnaubte schwer.
„Ich befürchte, dass ich doch zu Ruri fahren muss. Eigentlich hatte ich keine Lust noch großartig die Stadt nach ihr abzusuchen“, jammerte die Blauhaarige, „Wer weiß, ob ich sie wirklich dort finde wo Shû-chan sie vermutet.“
Gequält packte das Mädchen ihre Tasche für einen Tagesausflug nach Shizuoka. Währenddessen versuchte sie noch irgendjemanden zu mobilisieren, der sie begleiten würde. Die Oberschülerin wollte nicht allein in einer Stadt herumirren, in welcher sie sich nicht so gut auskannte. Viele Leute konnte sie allerdings nicht fragen, denn Saito hätte sie zu sehr ausgefragt, Kuro und Skye wollte sie im Moment nicht ansprechen, Amika wurde von ihrer Familie eingespannt und durfte nicht weg und Momiji machte Überstunden bei Kuro. Einzig Akira wollte die Blauhaarige begleiten. Jedoch war Rin dagegen, dass der Rothaarige deswegen die Arbeit sausen ließ. Das würde ihm sicherlich Ärger einbringen. Shuya fragte sie erst gar nicht, denn er war bestimmt in der Schule. Abgesehen davon war dieser orientierungslose Vollpfosten eher ein Hindernis als eine Hilfe.
Schweren Herzens machte sich das Mädchen schließlich alleine auf den Weg.
Nachdem Rin abertausend mal nach dem richtigen Weg fragte, die Information am Bahnhof in den Wahnsinn trieb, in die falsche Richtung lief und sogar in den falschen Zug stieg, kam sie endlich am Hauptbahnhof in Shizuoka an. Trotzdem war sie noch nicht an ihrem eigentlichen Ziel angekommen. Wieder fragte sie am Infoschalter nach dem richten Gleis und verstand nur die Hälfte. Sie musste in einen anderen Stadtteil, hatte aber nicht so ganz verstanden wie genau. Schlussendlich verpasste sie die U-Bahn und musste auf die Nächste warten.
Nachdem sie diese dann endlich erwischte, konnte schon fast nichts mehr schiefgehen, denn sie musste bis zur Endstation fahren. Je näher das Mädchen ihrem Ziel kam, umso unruhiger wurde sie. Nicht weil sie Angst vor dem Ungewissen hatte, sondern weil sie sich in den Menschenmassen unwohl fühlte. Die Leute die hier ein- und ausgingen sahen größtenteils ziemlich abgehoben aus. Außerdem konnte die Blauhaarige auch einigen arroganten Gesprächen folgen, welche absolut nach Reichtum stanken. Nach einigen Stationen stiegen schließlich sogar einige Schüler hinzu. Wenn Rin den Namen der Station richtig deutete, dann war an dieser Haltestelle eine Akademie. Der Schuluniform nach zu urteilen wohl eine für die reichen Leute. Die Uniform war hauptsächlich in schwarz gehalten, hatte aber einige weiße und goldene Verzierungen. Auch der Stoff sah ziemlich hochwertig aus.
Wie es aussah war die Oberschülerin wohl im Reichenviertel der Stadt gelandet. Welch Ironie. Obwohl sie doch selbst kaum Geld hatte, landete sie immer wieder bei den reichen Schnöseln und musste sich deren abwertende Worte anhören.
Ängstlich umklammerte sie ihre Tasche, welche sie auf den Schoß genommen hatte und versuchte sich so unauffällig sie konnte zu verhalten. Sie wollte nicht auffallen und hoffte sehr, dass sie in Ruhe gelassen wurde. Natürlich war es ziemlich unwahrscheinlich, dass sie in der Öffentlichkeit niedergemacht wurde, aber sie wollte es nicht riskieren. Es waren zudem auch noch andere in der U-Bahn, welche ziemlich normal aussahen. Vermutlich gewöhnliche Angestellte oder dergleichen.
Endlich ertönte die Bahndurchsage „Endstation“, welche Rins Ziel ankündigte. Heilfroh endlich angekommen zu sein verließ sie mit der Masse die U-Bahn und schaute sich suchend nach ihrem Zielort um. Dabei durfte sie einige enorm große Gebäudekomplexe bestaunen. Aber diese waren nicht nur groß, sondern auch ziemlich prunkvoll und protzig. Man merkte direkt, dass die Leute hier zu viel Geld hatten. Da fühlte sich ein Normalbürger wie Rin es war, gleich sehr viel kleiner und unbedeutender. Ihr mulmiges Gefühl nahm weiter zu und sie fühlte sich mächtig unwohl. Ihr war, als würden sie tausend Blicke durchbohren, welche fragten was eine wie sie hier wollte. Obwohl die Blauhaarige genau wusste, dass sie keiner durchschauen konnte, kam sie nur mit wackligen Beinen voran. Diese ihr unbekannte Stadt war ihr viel unheimlicher, als das Bonzen Viertel ihrer eigenen Heimat.
Nachdem das Mädchen sich endlich ein wenig orientiert hatte fand sie ihr Ziel ziemlich schnell und stand im Nu vor dem großen verglasten Gebäude. Es war eine prachtvolle Einrichtung, welche zudem eine sehr akkurat gepflegte Anlage besaß.
„Mal sehen, ob ich hier richtig bin. Ruri wirkt überhaupt nicht so, als ob sie irgendetwas mit reichen Leuten zu tun hätte“, musterte die Blauhaarige noch immer kritisch das Gebilde.
Zum Glück stand an der Außenfassade der Name Miuna, sonst wäre sich die Stipendiatin absolut nicht sicher gewesen, ob sie hier richtig war. Generell war der große Glaskasten schwer zu definieren, wäre dort nicht noch zusätzlich ein großes rotes Kreuz angebracht, welches die Einrichtung als Krankenhaus definierte.
Noch einmal atmete Rin tief durch, ehe sie den Mut fasste und zum Eingangsbereich lief. Davor standen nämlich zwei Security Männer mir schwarzer Uniform und Sonnenbrille. Das waren Hindernisse, welche die Oberschülerin nicht erwartete. Sie wollte zwar nicht negativ denken, aber wenn sie die ganze Situation richtig deutete, dann war es wohl ziemlich unwahrscheinlich für sie an ihnen vorbeizukommen. Trotzdem musste sie es wenigstens versuchen. Kurz überlegte das Mädchen sogar, ob sie sich vielleicht einfach als Ruri ausgeben sollte. Wenn das Krankenhaus wirklich ihrer Familie gehörte, dann musste man die Eisblauhaarige kennen und ohne Probleme durchlassen. Und da die beiden sowieso immer miteinander verwechselt wurden, war die Idee nicht mal so arg abwegig. Andererseits wusste das Personal totsicher, dass die arme Tochter im Koma lag und es war viel zu riskant eine derartige Lüge aufzutischen. Also blieb der Blauhaarigen nur ein Ausweg: Augen zu und durch.
Angespannt, aber mit schnellem Schritt, lief sie schnurstracks zum Eingang, wo sie bereits von den Sicherheitsmännern gesichtet wurde. Kaum war sie in deren unmittelbaren Blickfeld, nickten die beiden Schwarzgekleideten ihr freundlich zu. Aus Reflex tat Rin es ihnen gleich, verstand aber nicht warum sich die Männer nicht rührten. Das war jedoch ihr Glück und so kam sie ohne anzuhalten problemlos hinein.
„Komisch“, murmelte sie leise, „Wozu sind die gut, wenn sie niemanden kontrollieren?“
Etwas orientierungslos blieb das Mädchen schließlich in der großen Eingangshalle stehen. Wie sich herausstellte sah das Gebäude nicht nur von außen protzig aus, sondern wirkte von innen noch viel schlimmer. Rin hatte ja nun schon so einiges gesehen, aber dieses Krankenhaus sprengte ebenfalls die Skala. Suchend sah sie sich nach einem Informationsschalter um, an welchen sie schnurstracks herantrat.
„E-Entschuldigung“, versuchte die Blauhaarige auf sich aufmerksam zu machen.
Irgendwie musste sie ja herausfinden, ob ihre Klassenkameradin hier anzutreffen war. Ziemlich erschrocken wurde sie daraufhin von der Empfangsdame angestarrt, ehe sich diese plötzlich erhob und hinter dem Tresen hervorkam.
„Ach du liebe Zeit“, verfiel die ältere Frau in leichte Panik, „Warum liegst du denn nicht im Bett mein Kind? Wurdest du schon untersucht?“
Noch bevor die Schülerin überhaupt realisieren konnte von was die Rede war, wurde sie auch schon in einen Rollstuhl gesteckt und Richtung Personenaufzug kutschiert. Auf halbem Weg kam den beiden eine Krankenschwester hektisch entgegen, welche die Empfangsdame ablöste und den Rollstuhl mitsamt der Blauhaarigen dankend übernahm.
Rin verstand die Welt nicht mehr, als sie mit der aufgebrachten Frau nun in eines der oberen Stockwerke fuhr. Ob es vielleicht an ihrer Hand lag, welche noch immer mit einem dicken Verband umwickelt war? Vielleicht war es in einem Elitekrankenhaus wie diesem normal, dass man wegen der kleinsten Schramme sofort behandelt wurde. Aber musste man sich nicht trotzdem zuerst anmelden, um den Papierkram zu prüfen? Immerhin war die Stipendiatin nicht so reich, als dass sie mal eben wegen einer Lappalie ins Krankenhaus gehen könnte.
„H-Hören Sie“, begann die Verletzte vorsichtig, „Ich möchte gar nicht wegen so einer Kleinigkeit behandelt werden. Eigentlich wollte ich nur…“ Noch bevor sie aussprechen konnte wurde sie jedoch unterbrochen: „Das ist doch keine Kleinigkeit. Warum hast du dich nicht eher gemeldet? Dein Vater reißt mir den Kopf ab, wenn er erfährt, dass du einfach so herumgelaufen bist.“ „Heh? Woher kennen Sie denn meinen Vater? Und seit wann ist so eine Verletzung ein Drama?“, wusste Rin nicht welche Frage sie zuerst stellen sollte. „Aber Ruri-san! Leidest du etwa an Gedächtnisverlust?“, schob die aufgebrachte Schwester ihre Patientin im Zielstockwerk aus dem Fahrstuhl, „Hast du vergessen wer dein Vater ist? Miuna-sensei ist doch jedem hier bekannt.“
Endlich begriff die Oberschülerin was hier soeben passierte. Eigentlich hätte sie auch selbst darauf kommen könne, dass sie hier jeder für ihre Klassenkameradin hielt. Das wäre ja nicht das erste Mal gewesen. Allerdings dachte sie, dass sie nicht verwechselt werden konnte, da Ruri ja noch eine Weile im Koma liegen würde. Aber die Stipendiatin hatte nicht bedacht, dass nur sie dieses Wissen hatte. Alle anderen konnten sich dieses Phänomen nicht erklären und wussten auch nicht was nötig war, damit die Schlafende wieder aufwachen würde.
„Ich befürchte Sie verwechseln mich“, versuchte die Blauhaarige das Missverständnis aufzuklären, „Ich bin nicht Ruri.“ „Blödsinn! Du scheinst eine Amnesie zu haben“, ließ sich die junge Frau nichts einreden. „Sie hat recht“, ertönte plötzlich eine unbekannte weibliche Stimme.
Vor den beiden versperrte plötzlich ein blondes Mädchen den Weg. Ihr Blick wirkte ziemlich konfus mit einem Hauch von Sorge: „Sie ist es wirklich nicht.“
So wie die Blonde die Rollstuhlfahrerin musterte, tat es diese ihr gleich. Die Unbekannte trug die edle Uniform der Akademie, an welcher Rin vor kurzem noch vorbeigefahren war und musste somit aus gutem Hause kommen. Ihre blonde Lockenpracht war mit auffälligen Haarbändern zu zwei Zöpfen gebunden, aus denen ein kleiner Teil zu einem Pony heraushing. Und da sie die beiden Blauhaarigen auseinanderhalten konnte, musste sie die Schülersprecherin logischerweise kennen. Aus irgendeinem Grund kam der Stipendiatin dieses Mädchen aber trotzdem bekannt vor. Dabei war sie sich sicher ihr noch nie begegnet zu sein.
„Ihr wollt mir doch einen Streich spielen“, war die Pflegekraft ziemlich empört, „Das glaube ich erst, wenn ich es sehe.“
Da es zwecklos war die junge Frau vom Gegenteil zu überzeugen, ließ die Blonde sie gewähren, hängte sich aber dennoch an die beiden dran. Im Zimmer angekommen klappte der Krankenschwester, wie zu erwarten, erstmal die Kinnlade herunter. Natürlich lag die Eisblauhaarige noch immer friedlich schlummernd in ihrem Bett.
„Aber… Wie…?“, stotterte die Ältere herum, „U-Und wer bist du dann?“ Endlich konnte sich die Blauhaarige wieder erheben und stellte sich nun ordentlich vor: „Mein Name ist Rin Aikawa und ich bin eine Freundin von Ruri. Wir gehen in dieselbe Klasse.“
Kaum hatte die Verwechselte sich erklärt, wurde die Angestellte blass im Gesicht, entschuldigte sich mehrfach und verschwand so schnell sie konnte.
„Bist du mit Rui verwandt?“, legte die Blonde den Kopf schief, „Vielleicht eine Cousine oder so? Da ist schon eine gewisse Ähnlichkeit vorhanden.“ „Rui? Aber nein, es ist absolut unmöglich, dass wir in irgendeiner Weise verwandt sind. Da sind keinerlei Parallelen“, winkte Rin ab. „Echt eigenartig“, kam es nur aus ihrem Gegenüber. „Wenn man genauer hinschaut, dann wird man auch erkennen, dass wir uns doch gar nicht so ähnlichsehen. Ruris Haare und Augen sind viel heller als meine. Durch die ähnliche Haarlänge verwechselt man uns eben schnell mal“, versuchte die Stipendiatin ihren Standpunkt zu vermitteln, „Und wer bist du?“ „Ach herrje, ich habe mich ja noch gar nicht vorgestellt“, war die Blonde ein wenig aufgebracht, „Nenn mich einfach Akki. Ich bin Ruis beste Freundin. Wir kennen uns schon ewig.“ Kurz überlegte die Blauhaarige: „Kennen wir uns vielleicht von irgendwo? Du kommst mir so wahnsinnig bekannt vor.“ „Nicht dass ich wüsste“, zuckte sie mit den Achseln und lächelte freundlich.
Kurz darauf verabschiedete sie sich auch schon und verließ den Raum. Endlich konnte sich die Oberschülerin ihrer Klassenkameradin widmen. Sie wollte wissen wie es ihr ging und ganz nebenbei diesen verflixten Schlüssel endlich ausfindig machen. Noch ehe sie aber am Bett der Schülersprecherin angelangt war, ging plötzlich die Zimmertür blitzartig auf.
Überrascht drehte sich das Mädchen herum: „Hast du was vergessen, Akki-chan?“
Doch noch ehe sie sich versah, wurde sie von einem älteren Mann stürmisch an den Schultern gepackt und umarmt: „Ich war ja so besorgt! Gott sei Dank bist du wohlauf!“
Die Erdrückte versuchte sich zwar aus dem liebevollen Würgegriff zu befreien, hatte jedoch keine Chance. Stattdessen ruderte sie nur wild mit den Armen und brachte ein paar gedämpfte Geräusche heraus.
Wer war dieser Verrückte, der sie soeben erwürgte? Wurde sie etwa schon wieder mit ihrer Klassenkameradin verwechselt? Waren die Leute in diesem Laden etwa alle blind oder was?
Es dauerte tatsächlich nicht allzu lange, bis der Mann realisierte, dass Ruri noch immer in ihrem Bett lag. Schlagartig drückte er Rin wieder von sich weg und fragte verwirrt: „Wer bist du?“
Ein genervter Seufzer entwich der Verwechselten. So langsam hatte sie keine Lust mehr auf dieses Theater: „Hat denn hier keiner Augen im Kopf oder was?! Soll ich mir ein Schild an den Kopf hängen auf dem steht, dass ich nicht Ruri bin?! Und wer sind Sie überhaupt?“
Während der Ältere scheinbar auf Durchzug geschaltet hatte, starrte er die Blauhaarige wie versteinert an. Er wirkte ein wenig verschreckt. Die Oberschülerin hingegen fand das schon gar nicht mehr verwunderlich. Immerhin hatten innerhalb weniger Minuten noch ein paar andere Personen einen ähnlichen Gesichtsausdruck, als sie sie zum ersten Mal gesehen hatten. Warum war das hier so extrem? In der Schule hatte sie diese Probleme doch auch nicht. Wobei sie dort ihre Uniform ein wenig anders trug als die Eisblauhaarige. Vermutlich war das ein ausschlaggebender Punk dafür, dass dort keine größeren Schwierigkeiten entstanden.
Noch immer rührte sich der Unbekannte nicht. Seine dunkelblauen Augen hingen starr auf der Oberschülerin, welche den Moment nutzte, um ihn sich genauer anzusehen. Er hatte dunkelblaues kurzes Haar, welches an den herunterhängenden Spitzen wuschelig auslief. Seine Kleidung bestand aus einer dunkelgrauen Hose, in welche ein hellblaues Hemd hineingesteckt war. Passend dazu hatte er sich eine dunkelblau gestreifte Krawatte umgebunden. Außerdem trug er einen klassischen weißen Arztkittel. Wüsste Rin es nicht besser, würde sie glatt behaupten, dass es sich bei diesem Arzt um Ruris Vater handelte. Anders konnte sie sich sein übertriebenes Verhalten jedenfalls nicht erklären.
„Sie sind ihr Vater, oder?“, versuchte das Mädchen ihn aus seiner Starre zu lösen, „Ich heiße Rin Aikawa und bin eine Freundin Ihrer Tochter. Wir gehen in dieselbe Klasse.“ „J-Ja, ich bin Saijiro Miuna“, schien der Mann noch immer mit der Situation überfordert. Die Blauhaarige konnte ihre Neugierde jedoch nicht zurückhalten und fiel mal wieder mit der Tür ins Haus: „Scheinbar bedeutet Ihnen Ruri ziemlich viel. Warum haben Sie sie dann so weit weg zur Schule geschickt?“
Die Oberschülerin wusste, dass es ihrer Klassenkameradin zu schaffen machte, dass sie alleingelassen wurde. Zwar spielte die Schülersprecherin immer die Starke, hatte allerdings auch eine ziemlich sensible Seite.
„Glaub mir… ich habe das nicht getan, weil ich es wollte. Es war der einzige Ausweg“, sah man dem Arzt die Verzweiflung deutlich an. Ein verwunderter Blick traf den Älteren: „Wie meinen Sie das?“ „Das ist eine lange Geschichte. Im Moment ist es wichtiger herauszufinden was mit Ruri passiert ist. Es macht einfach keinen Sinn, dass ein gesunder Mensch mal eben ins Koma fällt“, war er besorgt.
Da die Oberschülerin nicht wusste was sie darauf antworten sollte schwieg sie. Weil sie den Grund oder zumindest den Weg kannte, um ihre Klassenkameradin zu retten, wollte sie sich nicht verplappern. Entweder hätte man sie dann für verrückt erklärt oder sie aus Neugierde durchbohrt.
„Du bist doch eine Freundin meiner Tochter, oder?“, hakte Saijiro nach. Ein Nicken des Mädchens beantwortete die rhetorische Frage und der Arzt fuhr fort: „Ist Ruri mit irgendwelchen anderen kränklichen Menschen befreundet?“
Etwas irritiert über die eigenartige Frage, verzog die Blauhaarige ihr Gesicht. Wie kam er denn auf so eine komische Fährte? Glaubte er etwa, dass sie sich bei jemandem mit etwas angesteckt haben könnte? Dann hätte es doch schon viel eher Anzeichen einer Krankheit gegeben. Allerdings schien es ihr gut zu gehen.
„Nicht, dass ich wüsste“, antwortete Rin, „Hat sie denn eine schwerwiegende Krankheit? Was ist der Grund für ihren Zusammenbruch?“ Ein Schnauben entwich dem Mann: „Ich weiß leider nicht was sie hat. Sämtliche Test und Untersuchungen fanden rein gar nichts. Wüsste ich es nicht besser, würde ich behaupten sie sei kerngesund. Aber keine gesunde Person fällt einfach so um.“
Wo er recht hatte, hatte er recht. Wieder musste die Schülerin der Versuchung widerstehen nichts auszuplaudern. Wie gerne hätte sie gesagt, dass sich der Vater keine Sorgen machen brauche, weil sie schon alles regeln würde. Dadurch kämen allerdings unbeantwortbare Fragen auf. Sie musste also die Unwissende spielen.
„Was hast du da eigentlich an deiner rechten Hand?“, griff Saijiro nach dieser und begutachtete den schlampigen Verband, welcher auf der Handinnenseite mit Blutflecken übersät war.
Schweißperlen bildeten sich an der Stirn des Mädchens, denn sie wusste nicht wie sie das erklären sollte. Es war ziemlich unwahrscheinlich zu dieser Jahreszeit irgendwo festzufrieren. Aber auch im Winter wäre das nicht so leicht gewesen, denn wer friert denn mal eben an einer Türklinke fest?
„Ähm…“, schindete sie Zeit, „Das ist doch nichts Wildes. Nur so eine Art Verbrennung.“ Der Arzt bemerkte sofort, dass ihre Aussage nicht so ganz der Wahrheit entsprach: „Und wie ist das passiert?“ „Beim Sport“, brachte sie nur heraus und hoffte er würde es ihr abkaufen.
Wie sollte sie auch erklären, dass sie Ruris vereisten Dungeon-Eingang versucht hatte zu öffnen und dadurch festgefroren war.
Trotz ihrer offensichtlichen Lüge, packte der Ältere sie und schleifte sie in einen der Behandlungsräume, um ihre Verletzung zu versorgen. Rin jedoch sträubte sich dagegen, denn sie konnte sich die Rechnung von diesem Elitekrankenhaus definitiv nicht leisten. Allerdings überredete der Arzt sie recht schnell damit, dass die Behandlung kostenlos sei. Immerhin war das Mädchen eine Freundin seiner Tochter.
Nachdem die Oberschülerin endlich einen neuen ordentlichen Verband um ihre Hand hatte, lud Ruris Vater sie noch zum Tee ein. Er wollte mehr über das Schulleben der Eisblauhaarigen erfahren. Sie selbst erzählte so gut wie nichts, weshalb Saijiro nicht wusste wie es ihr erging.
„Na ja, sie hat immer jede Menge zu tun. Manchmal frage ich mich, ob sie überhaupt noch ein Privatleben hat“, erklärte Rin, „Sie hat immer die besten Noten, übernimmt alle möglichen Aufgaben und ist sogar noch Schulsprecherin.“ Der Ältere verschluckte sich soeben an seinem Heißgetränk: „S-Sie ist was?!“ „Wussten Sie das nicht?“, staunte die Blauhaarige nicht schlecht. „Nein. Sie ist immer so zurückgezogen und redet kaum etwas“, betrübte sich sein Gesicht, „Ich bin wirklich ein mieser Vater.“ „Das ist doch Quatsch. Nur weil sie nicht so viel erzählt, heißt das nicht automatisch, dass Sie ein schlechter Vater sind“, versuchte Rin ihn wieder aufzuheitern.
Ein kurzes Schweigen brach aus, welches dem Mädchen mehr als unheimlich war. Es war generell eine ziemlich eigenartige Situation in welcher sie sich soeben befand. Sie hätte nie gedacht, dass sie plötzlich mit Ruris Vater zusammensitzen würde. Außerdem hatte sie ihn sich ganz anders vorgestellt. Da er seine Tochter mehr oder weniger abgeschoben hatte, dachte die Blauhaarige, dass er ein kaltherziger und ernster Erwachsener sei, der für seinen Job lebte und dem alles andere egal war. Allerdings war er das absolute Gegenteil. Es schien beinahe so, als sei seine Tochter das Wichtigste für ihn.
„Ich hätte da noch eine Frage“, begann Saijiro ein neues Thema, „Deine Mutter ist nicht zufälligerweise Rika Aikawa, oder?“ Die Blauhaarige fiel jedoch aus allen Wolken: „Woher kennen Sie meine Mutter?“ „Oh“, war der Ältere sichtlich überrascht, „Hat sie mich nie erwähnt? Wir haben damals in Aehara zusammen Medizin studiert und waren richtig gut befreundet.“ „Ehrlich? Und wie war meine Mutter früher so?“, leuchteten Rins Augen förmlich.
Keiner erzählte ihr bisher etwas von ihrer Mutter, weswegen sie kaum etwas über sie wusste. Ryuichi verlor nie ein Wort über sie und Saito hatte kaum noch Erinnerungen an ihre Mutter. Rin selbst konnte sich überhaupt nicht mehr an sie erinnern. Einzig ihr Aussehen von den paar wenigen Fotos war ihr bekannt. Auch dass sie Krankenschwester war, wusste das Mädchen. Aber das wars auch schon.
„Rika war ein richtiger Sturkopf. Wenn sie etwas wollte, dann hat sie alles daran gesetzt es zu bekommen“, lachte der ältere Mann, „Das ist eigentlich eine ziemlich gute Eigenschaft, denn damals ist sie dadurch eine der besten des Jahrgangs gewesen. Sie wollte unbedingt Krankenschwester werden und auf der Kinderstation arbeiten. Wie du sicher weißt, hat sie das auch geschafft.“
Ein zaghaftes Nicken kam zur Antwort. Rin wusste nicht, ob sie lächeln oder traurig sein sollte. Eigentlich trauerte sie nicht um ihre Mutter, da sie sie nicht kannte. Andererseits wünschte sie sich, dass sie noch da wäre und sie wenigstens einmal erleben dürfte wie es wäre noch beide Elternteile zu haben.
Noch bevor sie weiter in Gedanken versunken wäre, redete Saijiro fröhlich weiter: „Ich weiß noch, wie sie mich früher immer getadelt hat, weil ich nie lernen wollte. Stattdessen habe ich lieber mit meinen Kumpels Fußball gespielt und auch hin und wieder ein Seminar sausen lassen. Hätte Rika mir nicht in den Hintern getreten, wäre ich sicherlich durch die Prüfungen gefallen.“
Je mehr Schönes er erzählte, umso mehr betrübte es die Oberschülerin. Sie wünschte, sie hätte ihre Mutter ebenfalls kennenlernen dürfen und all die schönen Dinge mit ihr erlebt.
Der Mann berichtete immer weiter und redete freudig kreuz und quer. Rin hingegen ließ den Kopf hängen und schaute bedrückt in ihre Tasse. Es dauerte nicht all zu lange, bis ihr plötzlich die ersten Tränen die Wange herunterkullerten. Zwar versuchte sie sie innezuhalten, versagte aber kläglich.
Als der Ältere es bemerkte, stoppte er abrupt in seiner Erzählung und schaute das Mädchen besorgt an: „Was hast du denn? Ist alles in Ordnung? Tut dir deine Verletzung so sehr weh?“
Es dauerte kurz, bis Angesprochene ihren Kopf wieder ein wenig hob. Ein kleines Lächeln huschte ihr über die Lippen: „Ich wünschte ich hätte sie kennengelernt… Meine Mutter.“
Entsetzt schaute der Arzt die Betrübte an: „W-Wie genau meinst du das?“
Sein Gesichtsausdruck verriet, dass er das Schlimmste befürchtete. Aber er schien es nicht wahrhaben zu wollen.
„Sie starb als ich noch ganz klein war. Deswegen habe ich keinerlei Erinnerungen an sie. Auch mein Bruder hat nur sehr schwammige Erinnerungen an damals“, erklärte sich Rin. „Das ist ja furchtbar. Und ich wusste rein gar nichts davon“, saß der Schock in Saijiro noch immer tief, „Aber wie ist es euch denn dann ergangen?“ „Es ist ein ewiges Auf und Ab. Unser Vater verbarrikadiert sich immer in seinem Labor und manchmal macht er im Monat mehr Verluste als Gewinn. Saito geht deswegen jobben und versucht uns so über Wasser zu halten“, schnaubte die Oberschülerin schwer, „Aber so ist es schwer für ihn sich vernünftig auf die Uni zu konzentrieren. Er studiert Medizin und will unserer Mutter nacheifern.“ Aufmerksam hörte er ihren Erzählungen zu, warf aber zwischenzeitlich Fragen ein: „Aber wenn ihr solche Geldsorgen habt, wie kannst du dir dann die Suzuki-Akademie leisten?“ „Ich habe ein Sportstipendium erhalten. Aber wenn ich ehrlich bin, dann befürchte ich, dass das ziemlich auf der Kippe steht. In diesem ganzen Theoriekram bin ich eine Katastrophe. Ruri hat mir so viel versucht einzuhämmern, aber ich habe immer nur die Hälfte verstanden“, entwich ihr ein erneutes Seufzen. Der Ältere war ziemlich betroffen von den ganzen Infos: „Das klingt ja wirklich furchtbar. Kann ich dir vielleicht irgendwie helfen? Du bist eine Freundin meiner Tochter. Wenn du die Schule wechseln musst wäre sie sicherlich traurig.“ Rin schüttelte zaghaft den Kopf: „Nein, ich will keine Almosen. Dann denkt Ruri nur, dass ich als Freundin gekauft sei. Außerdem stehen wir uns nicht so nahe, als dass Sie mir helfen müssten.“
Der Arzt sah ein, dass das Mädchen recht hatte und versuchte nicht weiter ihr seine Hilfe aufzuzwängen. Dennoch hätte er gerne etwas für sie getan.
„Warum fragten Sie eigentlich nach meiner Mutter?“, wechselte die Blauhaarige das Thema. Ihr Gegenüber überlegte kurz was er antworten sollte: „Na ja… Ich wollte sie irgendwie kontaktieren und mich bei ihr entschuldigen. Wir sind damals in einer Art Streit auseinander gegangen. Vermutlich hasst sie mich. Nein, eigentlich bin ich mir ziemlich sicher, dass sie mich deswegen hasst.“ „Was ist denn passiert?“, war die Neugierde des Mädchens wieder geweckt. „Ich habe einige dumme Entscheidungen getroffen, die mir Rika ausreden wollte. Schlussendlich habe ich ihr damit geschadet, statt zu helfen“, wirkte Saijiro gequält, „Ich hätte mich schon viel früher bei ihr entschuldigen müssen. Aber leider kann ich das ja nun nicht mehr.“ „Sie hatten ja keine bösen Absichten und haben nur versucht zu helfen. Dass es nach hinten losging, konnten Sie ja nicht wissen. Zwar kenne ich meine Mutter nicht, aber ich bin mir sicher, dass sie das wusste und deswegen auch bestimmt nicht sauer war“, versuchte die Jüngere ihn wieder aufzuheitern.
Rin hätte wirklich gerne gewusst was der Inhalt des Streites war, traute sich aber nicht noch tiefer in der Wunde zu bohren. Vermutlich war es ja doch nur eine belanglose Meinungsverschiedenheit, die lediglich nur aufgeputscht wurde.
Viel Zeit zum Plaudern hatten die beiden nun nicht mehr, denn der Ältere wurde dringend bei der Arbeit gebraucht und das Mädchen musste bald los, damit sie nicht den letzten Fernzug verpasste. Bevor sie allerdings ging, stattete sie ihrer Klassenkameradin nochmals einen Besuch ab. Dieses Mal aber ohne Unterbrechungen und allein. So hatte sie die Möglichkeit in Ruris Sachen zu suchen, um den Schlüssel endlich zu finden.
Auf dem Nachttisch der Schülersprecherin waren einige Kleinigkeiten aufgestellt, welche Rin eine nach der anderen prüfte. Besonders der kleine Teddybär, welcher schon ziemlich mitgenommen aussah, fiel der Blauhaarigen ins Auge. Es schien ein typisches Kuscheltier aus Kindertagen zu sein. Neugierig griff das Mädchen den Bären und begutachtete ihn, als dieser plötzlich zu leuchten begann. Durch das grelle Licht musste die Stipendiatin die Augen zukneifen. Im nächsten Moment formte sich aus dem alten Plüschtier ein silber-blauer Schlüssel im Schneeflockendesign.
„Endlich“, fiel Rin ein Stein vom Herzen.