Kapitel 11 - Laufbursche lauf!


Montag, 13. April 2015

 

 

 

Es war bereits später Nachmittag, als Rin freudig am Lacrosse Training auf dem Sportplatz teilnahm. Die Kapitänin, Mikiko Sachihara, wollte den Neuzugang auf ihr Können testen und unterzog sie einem kleinen Sondertest. Gebannt starrten die übrigen Mitglieder auf das Geschehen und staunten nicht schlecht, wie die Blauhaarige mit dem Ball im Schlägernetz ihre Gegner geschickt umdribbelte. Es wirkte beinahe so, als sei es das einfachste der Welt, wenn man dem Mädchen zusah, wie es mit leichten Sohlen Haken schlug und sich dem Tor näherte. Mit strahlendem Gesichtsausdruck schien sie völlig in ihrem Element zu sein, während sie versuchte zu punkten. Ihre letzte Gegnerin vor dem Tor schien sie allerdings nicht umgehen zu wollen. Stattdessen sprang sie unmittelbar vor dem Mädchen plötzlich überraschend in die Höhe und pfefferte zeitgleich den Ball mit voller Wucht problemlos ins Tor. Noch vollkommen perplex starrte die Torhüterin zu der Neuen herüber, welche mit Leichtigkeit wieder auf ihren Füßen landete.

 

Eine kurze Stille legte sich über die Mannschaft, in der alle versuchten zu realisieren, was in den letzten Sekunden passiert war. Diese jedoch hielt nicht lange an, da die Oberschülerinnen zu jubeln begannen und den Neuzugang plötzlich voller Begeisterung belagerten: „Du bist ja wahnsinnig geschickt und flink!“ „In welcher Mannschaft warst du zuvor?“, wollten einige wissen. Andere gaben auch ihrer Begeisterung Ausdruck: „Du könntest glatt in die Startaufstellung kommen, wenn du so weitermachst.“

 

Wie wild plapperten sie noch kurz durcheinander und gaben Rin keinerlei Chance auch nur auf irgendetwas antworten zu können. Stattdessen kratze sich die Neue verlegen am Hinterkopf und grinste schief.

 

Es dauerte kaum eine Minute, da ertönte plötzlich eine laute Trillerpfeife und schlagartig kehrte Ruhe ein. Mit suchendem Blick sah die Blauhaarige schließlich wer da soeben gepfiffen hatte. Es war Mikiko, die ihren Teamkameraden einen bösen Blick zuwarf, welcher scheinbar reichte, um für Disziplin zu sorgen. Sie hatte sich einfach die Pfeife geschnappt, welche noch immer um dem Hals der Managerin hing. Diese schien völlig überfordert mit der Situation und zitterte panisch.

 

Bevor die Schwarzhaarige allerdings dazu ansetzen konnte die Mädchen zu tadeln, ertönte plötzlich eine andere Stimme am Spielfeldrand: „E-Entschuldigt die Störung. Ich müsste mir mal Aikawa-chan ausborgen.“

 

Sofort richteten sich alle Blicke zur unbekannten Stimme, welche einem kräftigerem, aber kleineren Mädchen mit hellen blau-grünen Haaren gehörte. Sie waren auf ihrer rechten Seite größtenteils zu einem schulterlangen, lockigen Zopf zusammengebunden, während einige Strähnen heraushingen und ihr Gesicht großzügig einrahmten. Am auffälligsten waren jedoch ihre beiden unterschiedlichen Augenfarben, welche mit ihrer Haarfarbe jedoch sehr gut harmonierten.

 

Sie trug die Schuluniform der Akademie und Rin konnte an ihrer roten Schleife erkennen, dass sie aus dem ersten Jahrgang war. Statt der Uniformjacke hatte sie eine dunkelgraue langärmelige Strickjacke angezogen und passend dazu trug sie die schwarze Bluse, sowie den gelben karierten Rock. Die weißen Overknees hatte sie jedoch mit etwas wärmeren Socken ausgetauscht, welche sie unter die Knie geschoben hatte und nun ein wenig aufgebauscht waren. Auch ihrer Schuhe waren keine regelkonformen braunen Lederslipper. Die Blau-Grünhaarige entschied sich stattdessen für gelb-grüne Sneakers.

 

Im Gesamtbild erschien sie der Blauhaarigen zwar absolut nicht durchsetzungsfähig, allerdings sehr sympathisch. Wobei Rin sich ziemlich unsicher war, ob das Mädchen wirklich schon zur Oberschule ging, da sie recht klein geraten war. Aber wer war sie überhaupt und was wollte sie so plötzlich von dem Neuzugang des Lacrosse Teams?

 

 

 

„Entschuldige, dass ich dich einfach aus dem Training gerissen habe, aber es ist wirklich wichtig“, erklärte die Blau-Grünhaarige, während die beiden Mädchen mit schnellem Schritt den Sportplatz verließen. „Was ist denn passiert?“, verstand die Blauhaarige gar nichts, „Und wer bist du eigentlich?“ „A-Ach stimmt, ich habe mich ja noch gar nicht vorgestellt. Entschuldigung. Mein Name ist Momiji Kobayashi und ich gehe in die 1C. Wir sind uns schon mal begegnet. Weißt du noch?“, stellte sie sich vor. Kurz musste Rin überlegen wo sie ihr bereits über den Weg gelaufen war, als es ihr wie Schuppen von den Augen fiel: „Ach ja, stimmt. Du kamst aus dem Schülerratszimmer, als ich mit Yoshida-kun da war.“ „Genau“, nickte Momiji mit einem Lächeln im Gesicht. „Bist du denn ein Mitglied des Schülerrats oder woher weißt du wer ich bin? Und wofür brauchst du mich?“, durchlöcherte sie ihre Entführerin. „Nein, nein ich bin kein Mitglied. Manchmal helfe ich nur etwas aus, wenn Not am Mann ist. Ich habe gar keine Zeit, für eine solche Aufgabe“, winkte sie ab, „Komm einfach mit. Alles Weitere klären wir dann, wenn wir da sind.“

 

Neugierig, aber zeitgleich etwas unwillig, folgte sie dem Mädchen zurück ins Schulgebäude. Eigentlich würde sie viel lieber weiter mit dem Lacrosse Team trainieren, als durch die Gegend zu rennen.

 

Schlussendlich standen die beiden Mädchen vor der Tür des Schülerrats, welche die Kleinere sogleich aufzog und hineintrat. Verwundert darüber was die Blauhaarige hier sollte, trat sie ebenfalls ein und schloss die Tür wieder.

 

„Na wurde ja auch mal Zeit, dass du hier eintrudelst, du Vertragsbrecherin!“, wurde der Neuzugang von einer ihr vertrauten Stimme angeraunzt.

 

Kein geringerer als Kuro war es, der mal wieder mit seiner Höflichkeit glänzte. Er saß mit einem Haufen Papierkram und seinem Laptop alleine im Raum und schien ziemlich beschäftigt zu sein.

 

„Was soll das denn heißen?!“, keifte Beschuldigte zurück, „Ich habe deinen dummen Vertrag nicht gebrochen!“ „Und was ist dann das hier?“, stützte der Schwarzhaarige seinen Kopf gelangweilt auf einer Hand ab, während er mit der anderen einen Zettel in die Höhe hielt.

 

„Was soll damit sein?“, trat Rin näher heran, um erkennen zu können was er hochhielt, „Das ist meine Anmeldung fürs Lacrosse.“ „Du Schnarchnase sollst für mich arbeiten und nicht irgendwelche Bälle rumschmeißen! Hast du das etwa schon wieder vergessen?!“, meckerte der Suzuki-Erbe weiter herum. Genervt und voller Unverständnis ließ sie sich seine Worte nicht gefallen: „Selber Schnarchnase! Du hast vergessen dem Team Bescheid zu geben und mich anzumelden!“ „Warum zum Geier sollte ich dich im Lacrosse-Team anmelden?!“, schien langsam sein Geduldsfaden an seine Grenzen zu gelangen. „Bist du blöd? Ich habe ein Sportstipendium fürs Lacrosse!“, verschränkte das Mädchen die Arme, „Stand alles in den Unterlagen drin!“

 

Mit kritischem Blick starrte er das Mädchen kurz an, tippte daraufhin stillschweigend auf seinem Laptop herum und schnaubte daraufhin genervt. Siegessicher grinste Rin ihn an und war sichtlich amüsiert darüber, dass der ach so perfekte Suzuki-Erbe einen Fehler gemacht hatte.

 

Entnervt fasste sich der Schwarzhaarige daraufhin an die Stirn, atmete laut aus und sah abwertend zur Stipendiatin herüber: „Eigentlich dachte ich ja, dass du nur bisschen dümmlich aussiehst. Aber wer hätte gedacht, dass du wirklich so hohl in der Birne bist, dass du nichts weiteres kannst, als mit Bällen rumspielen? Deine Noten sind ja unterirdisch!“ „Geht’s noch?!“, wurde die Blauhaarige nun richtig wütend, „Wer ist hier bitte hohl?! Du warst es doch, der zu dumm war die Unterlagen richtig zu lesen! Außerdem waren meine Noten nur in Amerika so schlecht, weil ich Probleme mit der Sprache hatte!“ Gelangweilt schaute er wieder auf seinen Laptop, dann zurück zur wütenden Schülerin: „Nein. Das lag nicht an Amerika. Deine Noten in der Mittelschule sind genauso schlecht. Das ist ja erniedrigend für mich jemanden wie dich als meine Assistentin zu haben.“

 

Etwas überfordert und verwirrt zugleich blickte Momiji während der Diskussion immer wieder vom einen zum anderen. Scheinbar hatte sie diesen Streit nicht kommen sehen. Generell sah sie sehr überfordert aus, schien sich aber mit der Dauer der Diskussion wieder zu fangen. Trotz allem hatte sie keine Idee, wie sie mit dieser Situation umgehen sollte.

 

„Jetzt einen Rückzieher machen oder was? Du warst es doch der mich als Assistentin wollte, schon vergessen?!“, ließ sich Rin nicht mehr von ihm unterkriegen, „Und meine Noten waren gar nicht schlecht! Ich war im Durchschnitt!“ „Durchschnitt?!“, lachte Kuro hämisch und wollte soeben weiter auf der Oberschülerin rumreiten, als er unterbrochen wurde:

 

„H-Hört bitte auf!“, wurde die Erstklässlerin etwas lauter, „Was ist los mit euch…? Warum streitet ihr euch?“

 

Plötzliche Stille erfüllte den Raum, in welchem man nur das Schniefen der Jüngeren hörte. Sie konnte sich nun nicht mehr zurückhalten und begann zu weinen. Kuro blickte ziemlich überrascht zur Weinenden herüber. Auch die Blauhaarige schaute irritiert zu dem Mädchen herüber, welches mit sich selbst kämpfte und versuchte die immer wiederkehrenden Tränen wegzuwischen. „Wir sind nicht hier zum Streiten. Lasst uns lieber eine Lösung finden“, kam es gequält aus der Blau-Grünhaarigen.

 

Kurz räusperte sich der Schwarzhaarige und versuchte sich nun auch zusammenzureißen. Vermutlich hatte er soeben eingesehen, dass er ziemlich kindisch herüberkam und war peinlich berührt. Rin hingegen schien immer noch ein wenig verstimmt und schaute mürrisch drein, während sie versuchte die Erstklässlerin zu beruhigen.

 

„Aikawa-chan kann doch auch nach dem Training noch arbeiten, oder? Und wenn das nicht reicht, gibt es ja auch noch das Wochenende. Um die verpasst Arbeit nachzuholen kann sie ja zusätzlich noch einen Wochenendtag abtreten. So muss keiner auf irgendwas verzichten“, versuchte die Aufgebrachte einen Kompromiss zu schließen.

 

Während Rin das Gesicht verzog, als sie Wochenendarbeit hörte, schien der Suzuki-Erbe ziemlich zufrieden zu sein: „Eigentlich ist das gar nicht mal so übel. Dann habe ich immer jemanden greifbar, weil ihr etwas versetzt arbeitet. Gut, ich bin einverstanden.“

 

Froh über seine Zustimmung atmete Momiji auf.

 

Einzig der Neuzugang blieb verstimmt: „Dann habe ich ja gar nicht mehr frei.“ „Du kannst gerne einen passenderen Vorschlag machen. Das war nur so eine Idee…“, war die Jüngere sofort wieder eingeschüchtert. Offenbar wollte sie niemandem auf den Schlips treten.

 

Da dem Mädchen jedoch nichts Besseres einfiel, blieb sie stumm. Was hätte sie denn auch sonst vorschlagen sollen? Das Lacrosse Training würde sie sicherlich nicht ausfallen lassen und den Unterricht durfte sie nicht schwänzen. Und da es abgesehen von den Abenden unter der Woche scheinbar nur einer der beiden Wochenendtage betraf, war sie nochmal mit einem blauen Auge davongekommen.

 

„Lasst uns das einfach ausprobieren mit diesem Zeitplan. Klingt gar nicht so übel, wenn ihr etwas versetzt arbeitet“, beschloss der junge Mann schlussendlich.

 

„Arbeitest du etwa auch für den?“, zeigte Rin mit dem Finger auf den Schwarzhaarigen, „Erpresst er dich mit irgendwas?“ Momiji legte etwas verwirrt den Kopf schief, überlegte kurz und konnte noch antworten, bevor Kuro es tat: „Ja, ich darf als seine Assistentin arbeiten. Wieso sollte er mich erpressen? Die Arbeit ist sehr lehrreich.“

 

Es erweckte den Anschein, als würde die Blau-Grünhaarige super mit ihrem Arbeitgeber zurechtkommen, was die Zweitklässlerin sichtlich irritierte. Wie konnte man mit einem Kotzbrocken wie diesem zusammenarbeiten? War ihr etwa nicht bewusste wie mies dieser Kerl in Wirklichkeit war?

 

„Das ist aber ein Geheimnis, okay?“, legte sie ihren Zeigefinger auf die Lippen, „Ich möchte nicht, dass das die Runde macht.“

 

Verstehend nickte ihre neue Kollegin, fragte sich aber zugleich warum sie das Ganze geheim hielt. Generell verstand sie nicht was sie dazu bewegte für diesen Vollidioten zu arbeiten. Aber im Moment wollte sie all das nicht genauer erörtern, sondern schnellstmöglich zurück zum Training.

 

 

 

Frisch geduscht machte sich Rin am frühen Abend nach dem Training auf den Weg zu Kuro. Wirklich Lust hatte sie nicht, aber da musste sie nun durch. Bei ihm angekommen erwartete sie wieder irgendwelches Gemecker. Dieses blieb jedoch aus und er schob ihr einen Zettel herüber und begann damit zu erklären, was sie erledigen sollte: „Hier habe ich dir aufgelistet was du heute noch abarbeiten musst. Zu den Adressen hier musst du hingehen und für mich dringliche Papiere abholen. Die Briefe hier müssen schnellstens zu den besagten Adressen gebracht werden. Außerdem muss das hier zur Bank und diese Kiste zum Waisenhaus im Aoichi-kû Viertel. Den Stapel kannst du zur Post bringen und mit diesem Schlüssel gehst du zum Suzuki-Postfach und holst meine Post ab. Wenn du mit dem Botengang fertig bist, kommst du wieder her und kümmerst dich um die Infoblätter. Die müssen zusammengetackert werden. Das war‘s dann vorerst.“ „Vorerst?“, fehlten der Blauhaarigen grade jegliche Worte und sie blickte mit aufgerissenen Augen zu dem ganzen Kram, der auf sie wartete.

 

Wie sollte sie den Haufen Briefe auf einmal schleppen? Oder wie sollte sie die schwere Kiste ans andere Ende der Stadt befördern? Und an die riesigen Stapel der Infoblätter wollte sie erst gar nicht denken. Sie würde sicherlich eine Nachtschicht einschieben müssen, bis sie endlich fertig war.

 

Nachdem Rin ihre Gedanken wieder geordnet hatte, entgegnete sie ihrem neuen Arbeitgeber: „Und wie soll ich deiner Meinung nach von A nach B kommen? Wenn ich die Straßenbahn oder U-Bahn nehmen soll, dann gib mir Geld. Ansonsten brauche ich einen Fahrer.“ „Einen Fahrer?“, lachte Kuro amüsiert, „Als ob ich einer Assistentin einen eigenen Fahrer geben würde. Nimm die Bahn oder laufe. Ist mir völlig egal, solange du den Kram am Ende abgearbeitet hast.“

 

Knurrend ballte das Mädchen die Fäuste und wollte soeben protestieren, als der Suzuki Erbe sogleich einen kleinen Anstecker aus seiner Hose kramte und auf den Tisch legte: „Hier nimm den.“

 

Neugierig nahm sie den rautenförmigen Pin auf und begutachtete ihn. Es war ein goldenes Glöckchen mit einer schwarzen Schleife auf einem bronzenen Hintergrund darauf abgebildet. Umrandet war der Anstecker mit einem dünnen schwarzen Rahmen und auf der Rückseite war sogar eine Seriennummer eingraviert. Im Gesamtbild wirkte er ziemlich edel und teuer, obwohl er dem Mädchen eher nutzlos erschien.

 

„Was soll ich mit dem Teil? Gegen Geld eintauschen oder was?“, verschränkte sie die Arme. „Es fasziniert mich, dass du einfach gar nichts weißt“, schnaubte der junge Mann sichtlich genervt, „So gut wie jeder in dieser Stadt weiß, dass der Anstecker ein Symbol des Suzuki Multikonzerns ist und als eine Art Ausweis gilt. Damit kommst du beinahe überall rein, hast diverse Sonderrechte und kannst zum Beispiel auch kostenlos mit allen Bahnen innerhalb der Stadt fahren.“ „Krass“, bestaunte sie den kleinen Anstecker und merkte mal wieder, dass sie in einer ganz anderen Welt aufgewachsen war.

 

„Noch eins“, mahnte der Schwarzhaarige, „Solltest du den Pin verlieren, gibt’s keinen Ersatz. Pass also lieber gut drauf auf.“ „Ja, ja. Ich bin ja nicht bescheuert“, war die Oberschülerin genervt von seiner Ermahnung, „Sag mir lieber wann wir Ami da rausholen. Das ist viel wichtiger.“ „Ich habe keine Zeit für so einen Kindergarten. Geh mit Akira dieses Spiel spielen oder lass es. Als ob deine Freundin an zwei Orten gleichzeitig ist“, meckerte er sie an. „Dann gehe ich eben alleine!“, streckte sie ihm die Zunge raus, „Ich bin eh nicht auf deine Hilfe angewiesen du Blödmann!“ „Solange du die Arbeit vorher erledigst ist mir das scheißegal“, zuckte der Oberschüler mit den Achseln.

 

Knurrend vor Wut, schnappte sie sich den ersten Stapel mit den Briefen, welche zu den Adressen gebracht werden mussten und stiefelte davon.

 

 

 

Auf dem Weg zur Shiroshi Central Station versuchte Rin sämtliche Schreiben nach den Bezirken zu ordnen, um systematischer vorgehen zu können. Anschließend organisierte sie sich einen Plan der Bahnen und eine Stadtkarte. Am Informationsschalter fragte sie nach einer Fahrkarte und zeigte zugleich den Anstecker, welchen sie an ihrem Kragen befestigte. Sofort setzte sich der nette Herr am Tresen in Bewegung und kurz drauf, hatte er ihr eine kostenlose Jahresdauerkarte für U-Bahn und Straßenbahn innerhalb der Stadt ausgestellt. Erstaunt darüber wie viel Macht dieser einzelne kleine Pin hatte, begutachtete sie ihre neuste Errungenschaft und freute sich wie eine Bekloppte.

 

Natürlich schaffte es die Oberschülerin nicht alles zu koordinieren und fuhr einige Male im Kreis oder wieder zurück, da es enorm viele Anlaufstellen gab. Sie versuchte zeitgleich die Stellen abzuklappern an welchen sie etwas abholen sollte, verlief sich regelmäßig und irrte wie eine verlorene Seele durch ganz Aehara. Es war absolut nicht von Vorteil, dass die Blauhaarige so orientierungslos war, denn dadurch büßte sie nur ihre kostbare Zeit ein.

 

Gegen Ende ihrer Abholtour kam sie sogar bei der Autowerkstatt im Stadtbezirk vorbei. Sie fragte sich, was sie dort wohl abholen sollte und klopfte vorsichtig an der Tür ehe sie eintrat.

 

„Kann ich dir weiterhelfen?“, vernahm die Oberschülerin eine männliche Stimme und suchte nach dessen Besitzer. „Äh ja“, fand sie einen violetthaarigen jungen Mann, welcher soeben damit beschäftigt war eine Flüssigkeit unter der Motorhaube eines Autos aufzufüllen, „Suzuki schickt mich, um was abzuholen.“ „Sag mal, hat der eine Meise?“, wandte der Violettharige seinen Blick nicht einmal von der Flüssigkeit ab. „Sowieso“, bekam er direkt eine Antwort, woraufhin er grinsen musste. Endlich war er mit dem Nachfüllen fertig, drehte den leeren Kanister wieder zu und schritt auf die Botin zu: „Ich nehme mal an, dass du noch kein Auto fahren kannst, oder?“

 

Leicht perplex schüttelte die Blauhaarige den Kopf zur Antwort, während sie den jungen Mann erstaunt anstarrte. Er hatte eine ziemlich auffällige Brandnarbe auf seiner rechten Gesichtsseite. Zwar waren seine Haare auf dieser Seite ziemlich lang und verdeckten einen Großteil davon, dennoch konnte man die Narbe nicht übersehen. Außerdem hatte er recht braune Haut. Rin fragte sich, ob er wohl aus dem Ausland war, konnte es aber nicht erraten. Vielleicht war er auch einfach nur häufig in der Sonne? In seinen Haaren trug er ein blaues Band, welches hinten gebunden wurde und an seinem freiliegenden Ohr erkannte das Mädchen zwei Piercings. Am Oberkörper hatte er sich eine schwarze Lederjacke übergezogen, welche mit magentafarbenen Akzenten gespickt war. Dazu trug er eine schwarze zerrissene Hose, die er in seine Stiefel gesteckt hatte.

 

Grade, als der Mechaniker erneut ansetzen wollte, um etwas zu sagen, klingelte das Telefon im angrenzenden Büro. Mit einer schnellen Entschuldigung verschwand er daraufhin kurz, um den Anruf zu beantworten. Kaum eine Minute später war er auch schon wieder da und schritt auf die Oberschülerin zu: „Das war grad der Suzuki Knabe. Als hätte er hellgesehen oder so.“ „Was wollte er denn?“, hakte Angesprochene nach. „Hier“, wurden ihr ein Autoschlüssel und ein Brief hingehalten. Vermutlich war dort die Rechnung drin.

 

„Nimm das einfach mit. Das Auto wird erst abgeholt, wenn wir bereits geschlossen haben, deswegen solltest du schon mal den Schlüssel holen. Da unser Autoparkplatz nicht abgesperrt wird, kann die Karre später problemlos mitgenommen werden“, erklärte der junge Mann.

 

Daraufhin bedankte sich das Mädchen und machte sich wieder auf den Weg. Trotz allem fragte sie sich wer den Wagen wohl abholen würde und wieso erst so spät?

 

 

 

Noch längere Zeit war Rin mit ihrem Laufburschenjob beschäftigt. Sie kam noch einige Male zur Oberschule zurück, um geholte Dinge zu bringen und Wartendes mitzunehmen. Es dauerte seine Zeit bis sie alle weiteren Briefe zur Post gebracht hatte oder die Bank gefunden hatte. Auf halbem Weg fiel ihr dann auf, dass sie vergessen hatte Kuros Postfach bei der Poststelle zu leeren und musste sich erneut auf den Weg machen. Fertig mit der Welt kam sie schlussendlich mit Unmengen an Briefen und Päckchen wieder im Schülerrat an.

 

„Du bist echt lahm“, begrüßte sie Kuro freundlich wie immer. „Ich war in fast jedem Stadtteil von Aehara!“, keifte sie ihn an, „Die Bahnen fahren leider nicht schneller!“ „Momiji schafft das beinahe doppelt so schnell wie du und ist dann im Gegenteil zu dir schon mit allem fertig“, warf er ihr einen kritischen Blick zu. „Ich bin auch fertig!“, protestierte die Oberschülerin.

 

Im selben Atemzug wanderte ein fordernder Blick des Suzuki-Erben von seiner neuen Assistentin hin zur Kiste, welche noch nicht im Waisenhaus abgegeben wurde. Quengelnd versuchte das Mädchen sich dagegen zu wehren das schwere Teil durch die Stadt zu schleppen, erhielt jedoch keine Gnade.

 

Mühselig zerrte sie schließlich noch ihren letzten Wanderauftrag an besagten Ort, indem sie mit der U-Bahn die schnellste Route zum Hauptbahnhof wählte, um dort auf die Straßenbahn umzusteigen. Draußen war es mittlerweile sogar schon dunkel geworden, als sie endlich das Waisenhaus fand.

 

Vorsichtig klingelte sie, woraufhin eine ältere grauhaarige Dame die Tür öffnete.

 

„Guten Abend. Suzuki schickt mich, um diese Kiste hier abzugeben“, überreichte das Mädchen die schwere Box. „Ach wie schön, dass er an uns denkt. Ayumu ist so ein lieber Junge“, lächelte die Grauhaarige sanft, „Komm doch noch auf einen Tee mit rein Liebes. Die Kinder freuen sich sicher.“ Verlegen versuchte sie sich herauszureden: „Ähm… also. Ich habe eigentlich keine Zeit.“

 

Während die Blauhaarige versuchte sich aus der verzwickten Situation zu befreien, hatte die ältere Dame sie schon ins Gebäude geschoben und zum Teetrinken in einen gemütlich wirkenden Raum gesetzt.

 

Einige der Waisenkinder waren noch wach gewesen und belagerten aufgeregt die Kiste, aus welcher sie allerlei Spielsachen herausholten. Aufgedreht tobten sie herum und freuten sich riesig darüber, was der Grauhaarigen ein freudiges Lächeln bescherte.

 

„Onee-san?“, tippte plötzlich eines der Mädchen Rin an, „Wo ist Ayu-onii-chan? Kommt er uns mal wieder besuchen, um mit uns zu spielen?“

 

Komplett sprachlos starrte die Blauhaarige das Kind an und musste wirklich angestrengt darüber nachdenken, ob mit besagtem Ayumu wirklich Kuro gemeint war. Es war absolut undenkbar, dass dieser Vollidiot als ein lieber Junge betitelt wurde, geschweige denn, dass er mit den Kindern spielen würde.

 

„Er kommt bestimmt bald mal wieder zu Besucht“, strich die Älteste der Kleinen über den Kopf, „Wie du weißt hat er ganz viel zu tun und fast gar keine Zeit zum Spielen.“ „Mano…“, schmollte die Kleine. Nun fand auch die Oberschülerin ihre Stimme wieder: „Ich sag ihm Bescheid, dass er mal wieder vorbeikommen soll, okay?“ „Ja!“, wandelte sich ihr Schmollgesicht in pure Freude.

 

 

 

Nach einer gefühlten Ewigkeit verabschiedete sich das Mädchen endlich wieder von den Kindern und der netten älteren Frau. Schnurstracks nahm sie daraufhin die nächste Straßenbahn zum Hauptbahnhof.

 

„Ich verstehe nicht wirklich was hier grade abging“, grübelte sie im Stillen, „Welche Verbindung haben diese Menschen zu Kuro? Bin ich etwa die Einzige, die in ihm diesen unfreundlichen Mistkerl sieht? Selbst Kobayashi-chan scheint keine Probleme mit ihm zu haben. Sind die blind?“

 

Gedankenversunken stieg die Stipendiatin am Hauptbahnhof aus der Straßenbahn aus. Statt jedoch in Richtung der U-Bahn zu laufen, spazierte sie in eine komplett andere Richtung und stand kurz darauf vor einem Fastfood Restaurant.

 

„Erstmal muss ich jetzt was essen“, stemmte das Mädchen ihre Hände in die Hüfte, „Den noblen Kram aus dem Wohnheim bin ich jetzt schon leid.“

 

In Gemütsruhe verdrückte sie genüsslich zwei Hamburger, bevor sie sich wieder auf den Weg machte.

 

Kaum war Rin die Eingangstür hinausgegangen, lief sie gradewegs in einen großgewachsenen Kerl hinein.

 

„Tut mir leid“, wich die Blauhaarige einen Schritt zurück, „Ich habe dich nicht gesehen.“ „Pass gefälligst besser auf!“, packte der Unbekannte die Schülerin am Kragen und sah sie zornig mit einem giftgrünen Augenpaar an.

 

„I-Ich habe mich doch entschuldigt. Lass mich los“, versuchte sie sich aus dem Griff des Fremden zu befreien. „Vergiss es, Kleine“, verspürte ihr Gegenüber pure Aggression und machte Andeutungen sie verprügeln zu wollen. Jedoch wurde er beim genaueren Betrachten der Jüngeren auf ihren Anstecker aufmerksam und sein zorniger Ausdruck verwandelte sich in ein hämisches Grinsen: „Oho was haben wir denn da? Dein hübscher Anstecker hier verrät mir, dass du scheinbar einen Haufen Kohle wert bist. Das kommt mir gelegen.“

 

Wehrlos zitterte die Blauhaarige am ganzen Leib und verfiel in eine Starre, als der gruselige Kerl den Suzuki-Pin, an ihrem Kragen genauer begutachtete. Rins Blick wanderte währenddessen über den Rüpel. Er hatte schwarze, gut durchgestufte längere Haare, welche ihm weit ins Gesicht ragten und an den Spitzen giftgrün ausliefen. Über seine Nase zog sich eine waagerechte Narbe und seine Ohren zierte jeweils ein Piercing. Seine schwarze ärmellose Lederjacke mit giftgrünen Akzenten trug er offen über seinem dunkelgrünen Shirt und in seinen schwarz-grünen Springerstiefeln steckte eine weite, ziemlich zerfetzte schwarze Hose. Um seine Hüfte konnte Rin einen Nietengürtel und ein genauso grelles grünes Tuch hängen sehen. An seinen Händen hatte er sich schwarze fingerlose Lederhandschuhe angezogen und ab seinen Handgelenken ragten an den Unterarm aufwärts grüne flammenartige Tattoos hervor. Auch die beiden Ketten mit den violetten und silbernen Anhängern, welche der junge Mann um den Hals trug, blieben der Blauhaarigen nicht verborgen.

 

Jedoch war das für die Oberschülerin alles zweitrangig, denn sie wollte einfach nur weg von der Gestalt.

 

„Ey! Phoenix! Kommst du oder was?!“, erschallte eine männliche Stimme aus weiterer Entfernung. „Gleich!“, brüllte der Schwarz-grünhaarige zurück, „Hab hier was Interessantes gefunden!“ „Mach hinne!“, kam nur als Antwort zurück und das Gespräch der beiden war beendet.

 

„Wo waren wir stehengeblieben?“, drückte er das Kinn der Schülerin nach oben, um ihr Gesicht besser sehen zu können.

 

Plötzlich hörte man von weitem laute Motorengeräusche und einige Sekunden später kam ein Motorrad mit quietschenden Bremsen vor den beiden zum Stehen. Als der Fahrer den Helm abnahm, staunte Rin nicht schlecht, denn es handelte sich bei ihm um den Violetthaarigen, den sie zuvor in der Autowerkstatt angetroffen hatte.

 

„Was willst du? Verpiss dich!“, raunzte der Schwarz-grünhaarige den Motorradfahrer genervt an. „Lass das Mädchen in Ruhe. Sie hat dir nichts getan“, blieb der Mechaniker ruhig. Verärgert schnalzte der Tätowierte mit der Zunge: „Tz. Das wird mir grad zu blöd.“

 

Ohne ein weiteres Wort zog er daraufhin von dannen, was die verängstigte Oberschülerin aufatmend hinterherschauen ließ. Dabei entdeckte sie auf der Rückseite seiner Jacke eine Art Logo, welches die Buchstaben „SD“ enthielt. Darunter prangerte ein grimmig blickendes Gesicht mit zwei Teufelshörnern.

 

Noch bevor die Blauhaarige darüber nachdenken konnte was genau das wohl zu bedeuten hatte, klärte ihr Retter sie auf: „Das war der Anführer der Straßengang Suicide Demons. Dort ist er unter dem Namen Phoenix bekannt. Du solltest dich vor ihnen in Acht nehmen, denn sie schrecken vor nichts zurück.“ „Du kennst dich aber gut aus“, legte Rin den Kopf schief, „Aber danke, dass du mich gerettet hast. Obwohl ich nicht gedacht hätte, dass sich der Kerl so einfach vertreiben lässt.“ „Keine Ursache. Aber lauf gefälligst nicht im Dunkeln alleine herum, Kleine“, rügte er die Jüngere. „Ja, ja. Das war doch keine Absicht. Ich heiße übrigens Rin Aikawa und nicht Kleine“, erklärte sie. Auch der Violetthaarige stellte sich nun vor: „Konnte ich ja nicht wissen. Ich bin Kyoya Kitajima. Komm, ich fahre dich nach Hause, bevor noch so ein Unglück passiert.“

 

Bereits während er sprach, warf er der Oberschülerin seinen Zweithelm zu und zwang sie zum Aufsteigen. Zwar wollte sie ablehnen und lieber die Bahn nehmen, doch ließ sich der junge Mann nicht überzeugen und setzte sie an ihrem Wunschziel, der Suzuki Akademie Oberschule, ab.

 

 

 

Leicht übermüdet zog die Blauhaarige die Tür zum Schülerrat auf, um sich auf die letzte Aufgabe zu stürzen. Sie wollte endlich fertig werden und einfach nur noch in ihr Bett. Der Tag war viel zu anstrengend und ereignisreich gewesen. Sie hatte sogar vergessen sich nochmal bei Akira zu melden, um einen neuen Tag festzulegen, damit sie Amika weitersuchen konnten.

 

Als Rin die Tür hinter sich zuzog machte sie sich schon darauf gefasst vom Suzuki-Erben angeschnauzt zu werden. Sie holte tief Luft, um direkt zu protestieren, jedoch blieb es mucksmäuschenstill. Ob er wohl nach Hause gegangen war?

 

Suchend sah sich das Mädchen im Raum um und entdeckte den Schwarzhaarigen schließlich friedlich schlummernd vor seinem Laptop. Ihr sollte es recht sein, denn so konnte ihr keiner etwas Beleidigendes an den Kopf werfen.

 

Zügig versuchte sie die Blätter wie befohlen aneinanderzuheften. Dabei machte sie mit dem Tacker einen enormen Lärm, da dieser bei gefühlt jedem zweiten Versuch klemmte.

 

Es verging eine ganze Stunde ehe die Blauhaarige endlich ihre Arbeit beendete und sich geschafft streckte. Gestapelt legte sie Kuro den Papierhaufen hin und musterte den jungen Mann im selben Atemzug nochmal. Er schlief seelenruhig weiter, als wäre in der letzten Stunde nichts gewesen. Scheinbar war er ziemlich überarbeitet gewesen und hatte kaum Schlaf abbekommen. Ein wenig Leid tat er der Oberschülerin in diesem Moment ja schon. Allerdings würde sie es nicht wagen ihn zu wecken und ins Bett zu schicken, denn sie hatte absolut keine Lust oder Kraft auf eine erneute Diskussion. Stattdessen überlegte sie kurz was sie machen sollte, kam jedoch zu keiner Lösung und beließ ihn einfach in dieser unbequemen Position. Lediglich ihre Schuluniformjacke zog sie aus und hängte ihm um die Schultern, damit er sich keine Erkältung zuzog. Danach verließ sie schnurstracks das Schulgebäude und machte sich im Eilschritt auf zum Wohnheim. Da es draußen in der Nacht ohne Jacke ziemlich kalt geworden war zitterte sie leicht und verfluchte sich selbst: „Ich wusste es war ein Fehler. Warum kam ich dumme Nuss auch auf die Idee ihm meine Jacke umzuhängen? Als ob der Vollidiot krankwerden würde.“

 

 

 

 

 


Danke fürs Lesen.

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